Predigt Lätare 2020 / Jesaja 66, 10-14

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen

10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.  12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.  14 Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

Liebe Gemeinde,

"Von guten Mächten treu und still und umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“ Dieses Lied hat Dietrich Bonhoeffer vor 75 Jahren geschrieben, ein Neujahrslied zum Jahreswechsel 1944/45. In dieser Zeit saß Bonhoeffer im Gefängnis, ungewiss, welchen Weg er noch geführt werden würde. Von den Nazis umgebracht zu werden, war für ihn in dieser Situation eine schrecklich-realistische Option.

Am 9. April 1945, also vor fast genau 75 Jahren, wurde Bonhoeffer im KZ Flossenbürg hingerichtet. Sein Neujahrslied trägt die Ahnung eines solchen Ausgangs schon in sich: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand. So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“ (Liedtext: EG 65)

Das Lied wirkt traurig und verbreitet zugleich Trost. Aus ihm spricht ein großes Vertrauen. Nicht nur als Neujahrslied wird es bei uns gesungen, sondern auch bei Trauerfeiern oder bei Trauungen. Es ist ein Lied gegen alles, was uns Angst macht, was unser Herz in Unruhe versetzt. In diesen Zeilen finden sich Menschen wieder, in diesen Worten drückt sich für sie aus, was wir von Gott ersehnen und vom Glauben erwarten: Halt, Geborgenheit, Trost, Zuversicht, Hoffnung.

Welches Bild könnte all diese Erwartungen besser ausdrücken, wenn nicht das Bild eines kleinen Kindes, dass auf dem Arm der Mutter liegend von ihr gestillt wird. Ein starkes Bild, das der Prophet Jesaja gebraucht, um von Gott zu sprechen, um damit das Volk zu ermutigen und zu trösten, um die Menschen aus der Furcht zur Freude zu führen.

Anfangs spricht der Prophet von Jerusalem als der Mutter Zion, an deren „Brüsten des Trostes“ das Volk sich satt trinken kann, in deren Nähe der Durst nach Geborgenheit und Annahme gestillt wird. Die Stadt Gottes, der Tempel - Zeichen der Gegenwart Gottes! Davon geht eine Wirkung aus, weil sich die Menschen Gott nahe wissen.

Dann geht der Prophet noch einen Schritt weiter und erklärt Gott selbst zu solch einer, den Durst stillenden Mutter; einer Mutter, die tröstet, die ihre Kinder fürsorglich und liebevollen in den Arm nimmt. Ein Bild von ungeahnter Kraft und existentieller Tiefe. Ein Bild für Gott, an dem ich mich satttrinken darf.

Wer denkt bei der tröstenden Mutter nicht an die eigene Mutter, die uns nach einem Sturz in den Arm genommen hat, gestreichelt hat, auf die Wunde gepustet hat, vielleicht gesungen hat: "Heile, heile Segen! Sieben Tage Regen, sieben Tage Sonnenschein, wird alles wieder heile sein.“

Natürlich trösten auch Väter. Darüber, was mütterlich oder väterlich ist und ob unsere Zuordnungen so stimmen, auch die Zuordnung, Gott als Vater oder Mutter zu sehen, darüber möchte ich hier nicht sprechen. Das lasse ich an dieser Stelle einfach mal beiseite, auch wenn eine solche Diskussion theologisch spannend und – hoffentlich - fruchtbringend wäre. Das Nachdenken über solche Bilder, kann mir helfen, mein Bild von Gott weiter zu fassen, meine Vorstellungen von ihm zu prüfen und zu korrigieren.

Das große Stichwort und das Ziel dessen, was Jesaja weitergeben möchte, ist Trost; Trost, der zur Freude führt; Trost gegen den Schmerz, gegen die Verletzung, gegen die Scham. Auch das kenne ich gut aus Kindertagen: Ich bin hingefallen, die Wunde schmerzt. Es tut weh. Andere  haben es gesehen, haben sogar über mich gelacht. Ich fühle mich schwach und ausgeliefert. Auch das tut weh. Wie wohltuend, in die Arme der Mutter laufen zu können.

Trost brauchen wir, wenn unser Ich angegriffen wird, wir uns hilflos vorkommen, überfordert und verletzt. Die Mutter, die uns getröstet hat, hat uns in den Arm genommen, uns ihren Schutz angeboten. Sie hat uns einen Schutzraum geschaffen, der Sicherheit gab, uns das Gefühl von Liebe und Annahme vermittelte.

Wie schnell bin ich als Kind wieder vom Schoß der Mutter gesprungen und weitergerannt, weil alles wieder gut war, selbst wenn das Knie noch geschmerzt hat. Aber es war schon nicht mehr so schlimm, weil jemand da war, der für mich da war.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag“, sagt Bonhoeffer. Da ist jemand da, der für mich da ist. Dabei war für ihn Weihnachten 1944 eher trostlos: Der Bruder Walter war gefallen, der Bruder Klaus ebenso im Gefängnis, wie auch die beiden Schwager Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher. Die Schwester Sabine war ins Ausland geflohen zusammen mit ihrem jüdischen Ehemann. In solch einer Situation findet Bonhoeffer für sich und für viele andere, die später seine Worte gehört oder gesungen haben, einen solchen Schutzraum bei Gott. Er findet Worte, die ausdrücken, wohin wir uns flüchten können.

Man hat Bonhoeffer mitunter vorgeworfen, er würde in seinem Lied zu unkonkret von Gott sprechen. Von guten Mächten reden, ohne zu sagen, wen er damit meint. Aus seiner Sicht ist klar, wer gemeint ist.

Eben jener Gott, in dessen Auftrag schon der Prophet Jesaja gesprochen hat: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Der Predigttext steht am Ende des Buches Jesaja und damit im 3. Teil des Jesajabuches. Sehr wahrscheinlich gehört dieser 3. Teil in die Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft. Viele der Juden sind aus dem Exil wieder nach Jerusalem zurückgekehrt. Der Aufbau hat begonnen, aber das Leben ist mühsam und beschwerlich.

Die große Vision, die den 2. Teil des Jesajabuches prägt - die Heimkehr auf einer Prachtstraße durch die Wüste, das neue Jerusalem - all das war weit weg und die Gegenwart war wenig prachtvoll. Schnell war die Euphorie verflogen, machte sich Resignation breit. Lohnt sich das hier? Ist Gott hier wirklich dabei? Sind die miesen Umstände nicht doch ein Zeichen, das Gott sich von uns losgesagt hat oder – was noch schlimmer wäre – er keine Macht besitzt?

Solchen Gedanken hält Jesaja seine Botschaft entgegen: Gott hat euch nicht vergessen, seine Absicht ist eindeutig: Er will Heil für sein Volk, er will Frieden für Jerusalem, Freude für die Menschen. Er ist euch zugewandt. Ihr liegt ihm am Herzen, so wie einer Mutter ihre Kinder am Herzen liegen und sie weiß, deren Verlangen zu stillen.

Der Bibeltext spricht in eine Situation hinein, wo Menschen dem Verzagen nahe sind und die Resignation um sich greift, wo Menschen um die Nähe Gottes ringen, sie vermissen und zugleich ersehnen, eine Situation, in der Menschen diesen Schutzraum seines Trostes suchen.

Dabei lässt sich nicht einfach „wegtrösten“, was uns zu schaffen macht. Auch nach sieben Tagen Sonnenschein ist noch längst nicht alles wieder heile. Das geht nur in einer Kinderwelt und manchmal nicht einmal dort. Nicht alles heilt schnell. Manches braucht sehr lange Zeit, manches wird nie mehr heil, jedenfalls nicht auf Erden.

Der Psalmbeter bekennt in Psalm 77: „In der Zeit meiner Not suchte ich den Herrn, denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.“ Die Seele will sich nicht vertrösten lassen, nicht billig abspeisen lassen mit gut gemeinten Ratschlägen oder Verallgemeinerungen, auch nicht mit frommen Floskeln.

Wirklich zu trösten ist eine Kunst und ist ein Geheimnis. Trost entfaltete seine Wirkung, wenn die zu Tröstenden davon erreicht werden und sich mitnehmen lassen, wenn sich das Gefühl einstellt: Es geht um mich, um mein Sein und mein Empfinden. Nicht darum, dass der Tröstende Recht behält.

"Ich glaube, ich bin ein schlechter Tröster." Wer hat das nicht schon gedacht? Sogar Bonhoeffer soll das von sich gesagt haben. Was soll man auch sagen, wenn einer nie mehr gesund wird? Was soll man sagen, wenn einer verlassen worden ist oder Angehörige mitten aus dem Leben gerissen wurden? Was soll man sagen angesichts einer Pandemie mit unvorstellbaren Folgen: tausende von Erkrankten, viele Tote, das Personal in den Krankenhäusern am Limit. Ein wirtschaftlicher Schaden immensen Ausmaßes und für viele von existentieller Bedrohung. Was will man da sagen?

Ist betroffene s Schweigen nicht angemessen? Zuhören wie Hiobs Freunde, die mit Hiob sieben Tage und sieben Nächte auf der Erde saßen und nichts mit ihm redeten: „Denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“

So Anteilnahme zu zeigen, ist schon Trost. Der zu Tröstende merkt: Ich bin nicht allein gelassen, jemand ist bereit, meinen Schmerz zu teilen, die Not mit auszuhalten. Ich bin nicht auf mich alleingestellt. Trost hat viel mit der Erfahrung von Gemeinschaft zu tun. So entsteht dieser Raum des Trostes, jener Schutzraum, der es dem Notleidenden ermöglicht, seine Klage, seine Wut, sein Seufzen, seine Tränen vorzubringen und abzugeben.

In Zeiten einer Coronakrise ist es schwieriger, solche Nähe zu zeigen, umso mehr ist unsere Fantasie gefragt. Man kann die Technik nutzen, die das Internet bietet, oder auf altbewährte Mittel zurückgreifen wie Briefpaper und Tinte oder 19:00 Uhr gemeinsam singen.

Hineingenommen in solch einen Schutzraum wird der Notleidende offen für einen Zuspruch; für gute Worte, die Verständnis ausdrücken und ermutigen wollen, ohne zu belehren, zu verharmlosen oder vorschnell zu deuten. In solch einem Schutzraum des Trostes lässt sich der zu Tröstende neu motivieren, möglicherweise sogar korrigieren und darin bestärken, seine Lage anzunehmen.

So entsteht Trost. Und so tröstet Gott. Er sagt seine unbedingte Nähe zu, bietet uns seine Nähe als solch einen Raum an zum Schweigen, zum Klagen, zum Weinen. So erfährt es auch der Psalmbeter, der sich nicht trösten lassen will, der so voll Unruhe ist, dass er nicht reden kann, der umgetrieben wird von seinen Fragen und Zweifeln, der mit der Möglichkeit spielt, Gott habe sich im Zorn von ihm abgewandt. Er bekennt: Zu Gott rufe ich und er erhört mich.

Gott tröstet, weil er mir gute Worte zuspricht. Das Wort Trost kommt sprachlich von den Worten Treue, Trauen und Vertrauen. Die Treue Gottes ist mir zugesagt; eine Treue, die nicht aufgibt oder aufgelöst werden kann. Solche Worte spricht Gott uns zu, wir lesen sie in der Schrift, hören davon im Gottesdienst, erfahren von deren Kraft, wenn Menschen sie uns vorleben.

Der Trost, den ich im Glauben erfahre, vermittelt sich auch durch die Gemeinschaft, die mich trägt und in der wir gemeinsam glauben, in der wir Erfahrungen miteinander teilen, miteinander und füreinander beten. Bonhoeffers Lied ist bewusst im Plural formuliert, auch wenn er es allein in seiner Gefängniszelle geschrieben hat.

Und daraus erwächst Freude, eine Freude, zu der der Prophet aufruft und sie verheißt. Solche Freude ist nicht mit Spaß zu verwechseln. Spaß ist eher oberflächlich angelegt, verdrängt eher und überspielt all die Dinge, bei denen uns das Lachen vergeht. Die Freude, von der Jesaja spricht, hat etwas Lösendes, Erlösendes. Sie befreit aus Erstarrung und Lähmung, sie motiviert zum Handeln, sie schenkt Zuversicht, ohne dass die Wirklichkeit ausgeblendet wird. Es ist jene Freude in allem Leide, von der wir im Lied singen (EG 398)

„Doch willst du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann wollen wir des Vergangenen gedenken und dann gehört dir unser Leben ganz.“ Bonhoeffers Neujahrslied, ein Lied aus dem Trauer und Wehmut spricht, aber auch Trost und Zuversicht, sogar die Erwartung von Freude.

Der Glaube daran rührt daher, dass sich Bonhoeffer diesem väterlich-mütterlichem Gott nahe weiß, sich von ihm gehalten und getragen sieht, auch in eigentlich trostlosen Zeiten. Für ihn bleibt es dabei: Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen

Verfasser Predigttext: Pfarrer Förster

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