… mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpern?

Stolpersteinverlegung in Euba am 14. Juni Hauptstraße 137a

„Sie könnten auch in Euba für einen Stolperstein die Patenschaft übernehmen“, sagte der Historiker Dr. Jürgen Nitsche vor zwei Jahren zu uns.

War dieser Satz der Anfang oder liegt er weiter zurück? Vielleicht fing der Prozess an, als wir nach ein er Wanderung, durch die Sächsische Schweiz, in Pirna–Sonnenstein abgebogen sind. Der Besuch der Gedenkstätte hat uns aufgewühlt. Wir kamen anders heraus, als wir hinein gegangen waren.

Was an diesem Ort geschah, war un–fassbar für uns und ist un-fassbar geblieben.

Wir lasen Bildtafeln und Dokumente, die über nationalsozialistische Rassen-Hygiene aufklärten, von „lebens-unwertem Leben“ sprachen, vom „Gesetz zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses“, von der Durchführung von Zwangssterilisationen und Abtreibungen, von Sammeltransporten, von Ärzten und Schwestern, die bei der Durchführung der Tötungen aus innerer Überzeugung, als Täter, aktiv waren. „Aktion T4“ und „Euthanasie“ waren bis dahin Begriffe, die eher weit weg angesiedelt schienen.

Dort, an diesem Sonntag, bekamen diese Worte eine Bedeutung. Sie bekamen ein Gesicht in dem Raum mit Fotos der Opfer und deren Lebensgeschichten.

Die Heil- und Pflegeanstalt Pirna–Sonnenstein war eine von sechs zentralen „Euthanasie“-Tötungsanstalten im Deutschen Reich.

Hier ermordeten die Nationalsozialisten in den Jahren1940 und 1941 rund 13 720 vorwiegend psychisch kranke und geistig behinderte Menschen. Sie wurden im Rahmen der „Aktion T4“ in einer Gaskammer, im Keller der Anstalt, umgebracht. Weiterhin starben an diesem Ort im Sommer 1941 mehr als tausend Häftlinge aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Ihre Leichen wurden sofort eingeäschert, die Asche den Abhang hinunter gekippt. Die Angehörigen erhielten einen sogenannten Trostbrief mit gefälschten Angaben über die Todesursache, das Sterbedatum und teilweise den Sterbeort. Außerdem wurde ihnen auf Wunsch eine Urne übersandt, die allerdings nicht die Asche des Verstorbenen enthielt.

Zahlen und Menschen. Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Einzelschicksal, die Biografie eines Menschen.

Ein Opfer der „Euthanasie“-Programme war Hedwig Heinke, geb. Felber, aus Euba.

An ihr Leben wird gedacht, wenn am 14. Juni 2023 ein Stolperstein für sie verlegt wird.

Wo? In Euba, gegenüber der Hauptstraße 137a, Gehweg

Wann? Ca. 15 Uhr 10

Warum an dieser Stelle? Gegenüber stand das Geburtshaus von Frau Heinke

Welche Inschrift trägt die kleine quadratische Messingtafel?

HIER WOHNTE

HEDWIG HEINKE

GEB. FELBER

JG. 1884

EINGEWIESEN 1930

ANSTALT ZSCHADRASS

`VERLEGT´ 10.7.1940

PIRNA-SONNENSTEIN

ERMORDET 10.7.1940

AKTION T4

Und was steht nicht darauf?

Über ihr Leben und darüber, wie sie ihre Kindheit und Jugend erlebt hat, ist kaum etwas bekannt. Als fünftes, von sechs Kindern des Ehepaares Felber, wurde Hedwig am 24. Dezember 1884 in Euba geboren und ebenso wie ihre Geschwister, evangelisch-lutherisch, getauft. Sie wuchs in einer Fleischerfamilie auf. 1907 heiratete Hedwig und wurde die Ehefrau des Schlossers Ernst Heinke.

Mit ihm wohnte sie später in Chemnitz. Hedwig und Ernst Heinke blieben ein kinderloses Ehepaar. Man weiß nicht, unter welchen Umständen sie lebten und ob sie glücklich waren miteinander. Man erfährt auch nicht, wann Frau Heinke krank geworden ist. Belegt ist, dass sie unter einer fortschreitenden Erkrankung des Nervensystems litt. Aus diesem Grund kam Hedwig Heinke im Alter von 45 Jahren, am 30. Januar 1930, in die Nervenheilanstalt Chemnitz-Hilbersdorf. Zwischen der Einweisung und der Entlassung liegt genau ein halbes Jahr. Als sich am 30. Juli 1930 hinter ihr die Tür der Anstalt schließt, kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern wird in die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß, bei Colditz überführt. Dort muss Hedwig Heinke ein ganzes Jahrzehnt hinter geschlossenen Türen bleiben.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann auch in Zschadraß das zweifelsfrei dunkelste Kapitel der deutschen Psychatriegeschichte, denn sie diente als zentrale Sterilisationsanstalt und als sogenannte Zwischenanstalt für tausende zur Tötung bestimmter Kranker.

Eine Patientenakte von Zschadraß, die den Krankheitsverlauf oder die Behandlung von Frau Heinke dokumentiert, ist nicht erhalten geblieben, jedoch wird sie im Abgangsverzeichnis weiblicher Patienten geführt. Durch die Spalte mit ihren Daten ist ein breiter roter Strich gezogen. Dahinter steht mit roter Tinte geschrieben: entl. 10.7.40

Damit wurde ihr Leben auf dem Papier ausgelöscht. Am selben Tag wurde Hedwig Heinke nach Pirna-Sonnenstein „verlegt“ und in der Gaskammer grausam ermordet.

Was ist eigentlich ein Stolperstein?

Allgemein sagt man zu einem schlecht eingefügten Stein in einem Gehweg Stolperstein, weil man beim Laufen daran stoßen oder mit dem Fuß hängen bleiben kann, so dass man ins Stolpern kommt. Stolpersteine, wie einer für Hedwig Heinke angefertigt wurde, sollen nicht wirklich zum Stolpern bringen. Vielmehr sollen wir über die Verbrechen des Nationalsozialismus stolpern und zum Nachdenken kommen. So wird die Erinnerung an die Opfer wach gehalten. Jeder Stein steht für einen Menschen, der von den Nazis getötet wurde.

Von wem stammt die Idee, Stolpersteine zu verlegen?

Die Stolpersteine sind ein Kunstprojekt des Künstlers Gunter Demnig, das er 1992 begonnen hat. Insgesamt werden diese Gedenktafeln in 30 europäischen Ländern verlegt und gelten damit als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Im April 2022 wurde der 90 000 Stolperstein eingesetzt, der an verfolgte, ermordete, deportierte, vertriebene oder in den Suizid getriebene Menschen während der Zeit des NS Regimes erinnert. Die meisten Gedenktafeln erinnern an jüdische Menschen, die durch den Holocaust getötet wurden, aber auch an Sinti und Roma, Homosexuelle, an politische Gegner und an Menschen, die durch die „Euthanasie“-Programme starben.

Achtung: Stolpergefahr!

Das Stolperstein-Projekt ist seit 2007 zu einer festen Tradition in unserer Stadt geworden. In diesem Jahr werden an verschiedenen Orten 24 neue Steine für Menschen verlegt, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen sind.

Mehrmals, wie auch bei den Verlegungen 2022, war Herr Gunter Demnig persönlich anwesend. Dass es ihm nicht um tatsächliches „Stolpern“ geht, wird deutlich, wenn er auf die Frage nach dem Namen des Projektes gern einen Schüler zitiert. Nach der Stolpergefahr gefragt, antwortete dieser: „Nein, nein, man stolpert nicht und fällt hin. Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.

In diesem Sinne laden wir Sie, laden wir Euch, gemeinsam mit den Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Chemnitz und des Ortschaftsrates, sehr herzlich zur Einweihung des Gedenksteins für Frau Hedwig Heinke ein, für die wir die Patenschaft übernommen haben.

Angela und Frank Hohaus